
Sind wir nicht alle ein bisschen Messie?
Wenn man den Begriff MESSIE hört, so stellt man sich gleich einen Menschen vor, der von einer krankhaften Sammelleidenschaft aller nur denkbaren Gegenstände befallen ist und/oder seine Wohnung einem mehr oder weniger grossem Müllladeplatz gleicht.
Allzu präsent sind uns die Bilder aus dem Fernsehen, wo uns Wohnungen gezeigt werden, die für unsere "geordnete" Vorstellungskraft nicht akzeptabel sind. Diese Wohnungen sind überfüllt mit Müll aller Art, sind verdreckt und ein nicht erträglicher Gestank erschwert das freie Atmen und nicht selten werden sie von unliebsamen Tierchen beherbergt.
Diese Zustände sind jedoch die Extremfälle.
Messies gibt es in unserer Gesellschaft zuhauf und irgendwie sind wir alle ein bisschen Messie. Denn zum Messie kann jeder werden, der in seiner Seele ein Chaos an Gefühlen und unverarbeiteten Erlebnissen und Lebenseinschnitten mit sich schleppt.
Dieser innere Chaos spiegelt sich dann im Aussen wieder - in seiner Wohnung, in seinem Büro, in seinem Auto. Er bewältigt den Alltag nicht mehr, weil sein inneres Chaos ihn blockiert.
Was ist charakteristisch für Messies?"
Messies tun sich äusserst schwer damit, zwischen "brauchbar und wichtig" und "unbrauchbar und unwichtig" zu unterscheiden.
Dies hat zur Folge, daß sich in ihrer Wohnumgebung, fallweise auch an ihrem Arbeitsplatz, immer mehr Gegenstände anhäufen, die bereits unbrauchbar geworden sind, die Organisation immer schwieriger und komplexer wird und schließlich auch die Betroffenen selbst nicht mehr sagen können, was sich konkret in ihrer Wohnung befindet.
Veraltete und sogar schadhafte Gegenstände können dann zu geliebten Erinnerungsstücken werden, die in Ecken, Kästen oder Regalen gehortet werden. Im Extremfall "Vermüllungssyndrom" können schliesslich grössere Bereiche der Wohnung gar nicht mehr betreten werden, bleiben in Extremfällen nur mehr enge "Fusswege" zwischen großen Haufen, Kisten und Säcken.
Spätestens dann treten häufig auch hygienische Probleme auf, und täglich steigt das Risiko, dass das Problem nicht mehr länger vor der Umwelt verborgen werden kann. Die Wohnung ist kaum mehr begehbar, und es droht die Zwangsräumung oder Zwangsunterbringung.
Sehr schwer fällt es Messies häufig auch, mit Zeit umzugehen (Termine einhalten, zeitgerechte Erledigung von Aufgaben und Anforderungen) und zwanglose Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen.
Dies mag zum einen Folge des meist als peinlich erlebten eigenen Lebensstils sein, oft ist es aber auch ein Symptom des psychischen Störungsbildes ADS bzw. ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), von dem Messies sehr häufig betroffen sind (und das man als "Ursache" des Syndroms verstehen kann)."
Ab wann ist das Vermüllungssyndrom eine Krankheit bzw. wann ist jemand einfach nur Sammler oder unordentlich?
"
Als Psychotherapeut bin ich sehr vorsichtig und zurückhaltend mit dem Begriff "Krankheit".
Als krankhaft bzw. psychische Störung bezeichne ich das Problem dann, wenn die betroffene Person ihr Verhalten alleine nicht mehr in den Griff bekommen kann, Ratschläge (der Umwelt, Hilfsangebote von Dritten, Selbsthilfe-Bücher etc.) nicht mehr weiterhelfen, und längere Zeit hindurch keine merkbare und dauerhafte Verbesserung erzielbar ist."
Wie weit und breit ist Messie Syndrom in der Gesellschaft?
Österreich:
Leider gibt es keine aktuelle, konkrete, offizielle Statistik über Thema Verwahrlosung und Messie Syndrom für Österreich.
Die Zahl der Betroffenen könne in Österreich nur geschätzt werden, rund 30.000 sollen es sein. Häufig sei das Vermüllen der eigenen Wohnung eine Begleiterscheinung von Depression oder Demenz.
Quelle: Alfred Pritz, Präsident der Sigmund Freud Universität: „Messie House Index“,
"Leider gibt es dazu noch keine fundierten wissenschaftlichen Untersuchungen. "Messies" im Sinne eines psychologischen Störungsbildes dürften ca. 0,5-3% der Bevölkerung sein.
Deutschland:
Leider gibt es keine aktuelle, konkrete, offizielle Statistik über Thema Verwahrlosung und Messie Syndrom für Deutsches Bundesrepublik.
Schätzungsweise 2 Millionen Menschen in Deutschland sind leiden unter dem sogenannten „Messie“-Syndrom". Messie stammt vom englischen Wort Mess: Unordnung, Chaos. Messies gibt es in jeder Gesellschaftsschicht und inzwischen findet man sie auch in fast jeder Altersgruppe ab 30 aufwärts.
Schweiz:
Leider gibt es keine aktuelle, konkrete, offizielle Statistik über Thema Verwahrlosung und Messie Syndrom für die Schweiz.
Zwischen 1998 und 2001 stieg die Zahl der ordentlichen Fürsorgerischen Freiheitsentziehungen (FFE) im Kanton Bern von 357 auf 620 Fälle. Sie wird voraussichtlich weiter steigen.
Quelle: WOZ vom 20.03.2003
Eine weitere Schätzung, die in Fachkreisen gesprochen wird, ist es: Etwa zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung sollen von dem Messie-Syndrom mit seiner krankhaften Ausprägung betroffen sein. Ganze 15 Prozent der Bevölkerung kennen Anteile des Messie-Verhaltens an sich selbst.
Zu welcher Krankheit gehört das Vermüllungssyndrom? Zwang? Sucht?
"Es hat sowohl typische Aspekte von Zwangsstörungen als auch Suchterkrankungen."
Wer ist gefährdet, am Messie-Syndrom zu erkranken? Wie wird man zum Messie?
"Neigt man grundsätzlich zu einer allgemeinen "Sammel-Leidenschaft", die sich nicht nur auf 1-2 Interessensbereiche beschfänkt, oder auch zu Sucht oder Zwängen, kann sich ein Messie-Syndrom daraus entwickeln."
Wie viele Menschen mit Messie-Syndrom leben In Österreich?
Selbsthilfegruppen sprechen von 15% (das wären ca. 1,2 Mio. Österreicher)?
"Leider gibt es dazu noch keine fundierten wissenschaftlichen Untersuchungen. "Messies" im Sinne eines psychologischen Störungsbildes dürften ca. 0,5-3% der Bevölkerung sein.
Die Dunkelziffer könnte aber hoch sein. So lernte ich im Laufe meiner therapeutischen Tätigkeit auch Menschen kennen, die das Problem lange Zeit hindurch überhaupt nicht klar identifizieren konnten, da sie über große Wohnungen verfügten oder erhebliche Teile Ihrer "Sammlungen" in andere Wohnungen (z.B. die von Verwandten, Zweitwohnungen oder Lagerräume) "auslagerten".
Man kann sein "Messie-Tum" also auch gut verdrängen oder verschleiern, sofern man die ökonomischen Mittel dazu hat."
Werden die meisten Messies zu einem - wie in den Medien gern zur Schau gestellten -"Vermüllungsfall"?
Oder sind sie einfach nur chaotisch und befinden sich in einem recht stabilen Zustand?
"Die aus den Medien bekannten "Vermüllungsfälle" sind extreme Einzelfälle, meiner Schätzung nach erreichen nicht mehr als 5% der Messies dieses Stadium. Aber auch wenn es nicht zu derartig dramatischen Entwicklungen kommt, erleben viele Betroffene ihr Verhalten als stark belastend, es schränkt ihre Sozialkontakte deutlich ein und erzeugt ein latentes Gefühl, "nicht in Ordnung zu sein".
Leider zeigen die Erfahrungen auch, dass das Problem eine Tendenz hat, unbehandelt an Belastung und Intensität zuzunehmen. Der Zustand bleibt also nicht stabil, sondern es wird im Laufe der Zeit immer schwieriger, wieder Ordnung in das äussere und innere Chaos zu bringen.
Sind Messies gleich Messies?
Doch Messie ist nicht gleich Messie.
Einige bewahren Zeitungen [Ausschnitte] und Broschüren stapelweise auf [Hoarding, Horten], andere wieder sammeln und horten [im Ausverkauf als Schnäppchen erworbene (Kaufsucht?!?)] Kleider und Gegenstände, die zum Teil gar nie getragen [ausgepackt] oder verwendet worden und in x-facher Ausführung vorhanden sind [z.B. Schere, Bohrmaschine, weil man sie nicht findet, wenn man sie braucht].
Manche stehen permanent unter Zeitdruck und haben chronische Probleme mit der Zeiteinteilung und Pünktlichkeit [falsches Zeitempfinden, immer Gehetz-sein ist ein Anzeichen für Depression,
Quelle: Prof. D. Hell.
Sind Messies "heilbar"? Gibt es Therapien? Helfen Medikamente? Welche Behandlungsmethoden?
"Durch Aussenstehende initiierte Hilfe (z.B. Aufräum- und Säuberungsinititativen von Verwandten oder Bekannten) werden von den Betroffenen fast immer als bedrohlich und angstmachend empfunden.
Prinzipiell kann Messies aber sehr gut geholfen werden - die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie *selbst* ernsthaft bereit sind, etwas an ihrem Verhalten zu ändern, gewissermassen einen "Aufbruch in ein neues Leben" wenigstens zu versuchen (dass sie sich das am Beginn einer Therapie selbst nicht wirklich vorstellen können, dies auch zu schaffen, spielt dabei keine Rolle - wesentlich ist der ernsthafte Wunsch, es zu schaffen!)
Als Therapiemethoden enthalten etwa Systemische Therapie, Verhaltenstherapie und Gestalttherapie Elemente, die sehr gut dabei unterstützen können, die zugrundeliegenden Probleme in den Griff zu bekommen.
Bei der Therapie geht es übrigens, das mag ein wenig überraschen, nicht in erster Linie darum, das Symptom (z.B. mangelhafte Sauberkeit in der Wohnung) in kürzestmöglicher Zeit zu beseitigen, sondern vor allem, den betroffenen Menschen in die Lage zu versetzen, sich selbst besser zu organisieren und ihn seelisch so zu stärken, dass er nicht nur innerlich "zupackender" wird, sondern mehr und mehr auch in seinem Lebensumfeld entsprechend aktiv werden kann."
Ist Messie eine Krankheit?
Nein. Denn sonst müsste alles was aus der Sicht der Normalos nicht normal ist, eine Krankheit sein.
Ist Messie gleich zu setzen mit Faulheit?
Nein. Denn viele Messies sind ausserhalb ihrer eigenen vier Wände sehr erfolgreich und fleissig.
Welche Fachbegriffe sind wichtig rund herum vom Thema Messie?
Vermüllungs-Syndrom, Diogenes-Syndrom, Müll-Horten, Unrat-Sammeln, Verwahrlosung, Alkoholkrankheit, chronische Depression, schizophrene Psychose, Zwangsneurose, Zwangsstörung, hirnorganische Beeinträchtigung, Alzheimer, Demenz, Minderbegabung, Persönlichkeitsstörung, Anpassungsstörung, Müll als Verlust-Ersatz, Vermüllung als Zeichen unserer Zeit, Müll als gewollte Verwahrlosung, Sammeltrieb, Sammelsucht, Messies, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitätsstörung, ADS, psychologische Hintergründe,
Ab und zu steht ADS Krankheit mit Messie-Sein in Verbindung. Was ist ADS?
ADS steht für Aufmerksamkeitsdefizitstörung und bezeichnet eine neurobiologisch bedingte Störung, die durch erhebliche Beeinträchtigungen der Konzentration und Daueraufmerksamkeit, durch Störungen der Impulskontrolle und der emotionalen Regulation gekennzeichnet ist. Zusätzlich kann eine motorische Hyperaktivität bzw. Unruhe auftreten (ADHS).
Vor allem eine unbehandelte ADS/ADHS kann störendes Verhalten in Schule, Familie und Freizeit, starke Verträumtheit, Entwicklungs- und Lernstörungen, in einigen Fällen auch delinquentes Verhalten und später auch Suchterkrankungen, Depressionen, Angststörungen und andere psychische Symptome oder Beziehungs- und Verhaltensstörungen hervorrufen.
Sind Messies neugierig und kreativ?
Sie besitzen die Fähigkeit, alles wahrzunehmen, was um sie geschieht, lassen sich von allem beeindrucken, überlegen und haben neue Ideen, was sie mit alle dem machen könnten.
Das alles ist im Grunde genommen positiv - nur, Messies fehlt dabei das Wichtigste: Ein Auswahlsystem! Was brauche ich wirklich und was kann ich gleich wieder abhaken?
Wie benehmen sich Messies am häufigsten?
Messies fangen alles an:
Sie fangen viele Dinge an und bringen nichts zu Ende. Sie haben viele Hobbys, aber keines wird wirklich ausgeübt.
Für jedes Hobby benötigt man irgendwelche Zutaten. Diese werden gekauft, besorgt - und sie bleiben ungenutzt irgendwo in der Wohnung verstaut, weil man das angefangene Projekt (Basteln, Fenstermalerei, Fitnesstraining usw) nicht zu Ende bringt.
Messies und ihre Probleme - sie sitzen sie aus?!
Selbst angesehene Menschen, die erfolgreich einen Beruf ausüben oder einfach alle, die nach aussen hin "normal" wirken, können unter ihren Problemen zusammenbrechen.
Unerledigte Sachen wie, Miete, KfZ-Versicherung, Rechnungen usw überweisen, wichtige Amtswege erledigen und vieles mehr werden zur unüberwindbaren Problematik, die einen enormen Leidensdruck bewirken kann.
Verstecken Messies Ihr Leiden?
Messies verstecken ihr Leiden damit, dass sie mit niemandem darüber reden und nach außen hin die heile Welt vorgaukeln.
Sie sind meist freundlich und zuvorkommend und helfen überall wo sie nur können - nur sich selbst lassen sie nicht helfen - aus Angst darüber, was man von ihnen denken könnte.
Messies lassen niemals jemanden freiwillig in ihre Wohnung und lassen sich auch kaum irgendwo blicken.
Sie sind permanent damit beschäftigt, sich und sein Leiden zu verstecken.
Besonders schlimm ist es für ältere Leute, die sich peinlichst schämen, dafür, dass sie mit zunehmendem Alter nicht einmal mehr die einfachsten und natürlichsten Dinge des Alltags alleine geregelt bekommen.
Und so kommt es, dass alles liegen bleibt - ein neuer Messie ist damit geboren.
Was ist Verwahrlosung?
Als verwahrlost gelten besonders häufig Obdachlose, die aufgrund ihrer Lebenssituation oder Verhaltens nicht mehr als Teil der Gesellschaft gesehen werden. Aber auch Kinder sind oftmals verwahrlost, wenn sich ihre Eltern nicht mehr um sie kümmern.
Die Verwahrlosung beschreibt einen Zustand der ausserlichen oder inneren Vernachlässigung eines Individuums, einer Gruppe oder eines Objekts.
Verwahrlosung bezeichnet immer eine Abweichung von der Norm und stellt einen Wertefall dar.
Der Begriff ist interpretationsbedürftig, da er werten unterworfen ist, die von der gesellschaft aufgestellt wurden. Die Werte können sich im laufe der Zeit ändern. Demnächt ändert sich auch die Interpretation von Verwahrlosung.
Äusserliche Verwahrlosung geht auf mangelnde Pflege zurück (zum Beispiel bei Gebäuden), bei Menschen und Tieren liegt oft eine mangelnde Hygiene vor.
Dazu kommen erworbene Eigenschaften, die von der Gesellschaft überwiegend als negativ bewertet werden, da sie von den algemeinen Wetrtstellungen abweichen.
Typische, negative Verhaltensweisen sind etwa Alkoholmissbrauch, Diebstähle oder generell Strafffälligkeit.
Mit Verwahrlosung geht immer eine mangelnde Kompetenz oder Motivation einher, un diesen Zustand wieder zu beseitigen. Dies kann zu einer sozialen Isalation führen, was wiederum den Zustand der Verwahrlosung verscharfen kann.
Wie beschreibt Wikipedia die Verwahrlosung?
Verwahrlosung bezeichnet einen Zustand, in dem die Mindesterwartungen, die die
Gesellschaft an eine
Person, ein
Tier oder eine
Sache stellt, nicht erfüllt sind. Beim Menschen spricht man dann auch von eingeschränkter Gemeinschaftsfähigkeit. Der Begriff ist vor allem
soziologisch, zunehmend aber auch
ökonomisch definiert.
Verwahrloste Menschen verhalten sich nicht
normgerecht, wirken, als hätten sie keine Kontrolle mehr über sich, halten die
Gesetze nicht ein oder missachten
Staatsbürgerpflichten. So gelten in einigen Ländern Nicht-Wähler schon als verwahrlost. In Deutschland galten bis in die
70er Jahre Jugendliche mit langem Haarschnitt oder roten T-Shirts bereits als verwahrlost.
Nach der derzeitigen Bundesstatistik gelten
Obdachlose,
Langzeitarbeitslose, Personen ohne Ausbildung oder
Bettler als verwahrlost, wenn mindestens eine zusätzliche Bedingung hinzutritt, wie
Alkoholabhängigkeit oder Strafauffälligkeit. In einigen
US-Bundesstaaten, z.B. in
Florida, gelten
Straftäter ohne zusätzliche Bedingung als verwahrlost und verlieren damit ihre Staatsbürgerrechte.
Wissenschaftlich beschäftigen sich hauptsächlich die Soziale Arbeit, Psychologie, Urbanistik und die Politikwissenschaft mit dem Phänomen. Die Soziale Arbeit sieht den Begriff mittlerweile er aus der Geschichte der Sozialarbeit veraltet, weil negativ geprägt. "Dissozialität" hat ihn in der neueren Forschung ersetzt (siehe Schilling/Zeller 2007).
Die Soziale Arbeit sieht darunter einen Prozess, so Rössner (1973), "in dem nicht erfüllte elementare Bedürfnisse - nach Anerkennung, Liebe, Frustrationstoleranz, und individueller und sozialer Identität - zu Unsicherheit und Ersatzbefriedigung oder Aggression führen."
Er sieht darin einen Teufelskreis", der sich in den verschiedenen Lebensfeldern wechselseitig aneinander steigernden, bestärkenden und verhärtenden individuellen und gesellschaftlichen Enttäuschungen und Abwehrreaktionen zeigt. Dissozialität erweist sich also als fehlgeschlagene Kompensation einer misslungenden Identifikation". Specht und Schweizer u.a. grenzten 1987 die Begriffe Dissozialität, Verwahrlosung, Delinquenz und Kriminalität noch gegeneinander ab.
Specht hat dazu klärend festgestellt: "Die Begriffe Dissozialität, Delinquenz und Verwahrlosung kennzeichnen einen bestimmten Interaktionszustand zwischen einzelnen Menschen und einem für sie bedeutsamen sozialen System. Sie beziehen sich nicht auf objektive Qualität von Handlungen." Schilling und Zeller (2007) sehen in dem Begriff der "Verwahrlosung", die Gefahr, dass Aufgabe und soziale Zielgruppe durch diesen Begriff der Verwahrlosung zu eng definiert werden.
Thiersch fügte schon 1992 an, "Die alte Selbstverständlichkeit, daß Scheitern in jedem Menschen angelegt und Gelingen nicht primär eigenes Verdienst, sondern Gunst der Umstände sei, ist ... vielfältig belegt worden. Zwischen Verwahrlosten und Normalen gilt kein prinzipieller Unterschied; Verwahrloste sind nur die Unglücklicheren, Benachteiligten; sie verurteilen ist pharisäisch...
Indem Verwahrlosung so aber nicht nur vom Individuum, sondern auch von der Gesellschaft aus, gleichsam als der eigene Schatten, als das schuldhaft Versäumte erscheint, wird es selbstverständliche Pflicht, die benachteiligten Umstände zu ändern und zu helfen.". So sieht Thiersch hier einen verhaltenpräventiven Auftrag.
Begriff der Verwahrlosung:
Verwahrlosung ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Formen des Abgleitens in einen ungeordneten, chaotischen Zustand.
Der Duden versteht unter Verwahrlosung: "durch Mangel an Pflege, Vernachlässigung o. Ä. in einen unordentlichen, schlechten Zustand, in einen Zustand zunehmenden Verfalls geraten, herunterkommen."
Verwahrlosung kann sich sowohl nach aussen als auch nach innen richten. Sie äussert sich im ersteren Fall durch eine Vernachlässigung des persönlichen Wohn-, Berufs- und Beziehungsumfeldes sowie des äusseren Erscheinungsbildes, im zweiten Fall durch einen Verlust des psychischen Antriebs, der Motivationen, des Selbsterhaltungswillens und der Fähigkeit zu zielgerichteter Aufgabenbewältigung.
Von Verwahrlosung können Menschen aller Altersstufen und Schichten betroffen sein.
Verwahrlosung kann in abgestufter und sehr unterschiedlicher Form auftreten. Es müssen nicht sämtliche o.g. Erscheinungsbilder zusammen gegeben sein. Manche Menschen gehen einer geregelten Berufsausübung nach, lassen jedoch ihre Wohnung verwahrlosen. Andere wiederum leiden unter einer Sammelsucht (Messie-Syndrom), die dazu führen kann, dass die gesamte Wohnung immer mehr mit angesammelten Gegenständen vollgestellt wird.
Eine innere, psychische Verwahrlosung muss nicht zwangsläufig mit einer äusseren Verwahrlosung gekoppelt sein.
Verwahrlosung und Messies in der Schweiz:
Warum immer mehr Menschen fürsorglich die Freiheit entzogen wird
Verwahren gegen Verwahrlosung von Fredi Lerch WOZ
Zwischen 1998 und 2001 stieg die Zahl der ordentlichen Fürsorgerischen Freiheitsentziehungen (FFE) im Kanton Bern von 357 auf 620 Fälle. Sie wird voraussichtlich weiter steigen.
Gegen die einseitige Betonung des Zwangscharakters dieser Massnahme wehrt sie sich: «Es kommt vor, dass ich jemanden nicht einweise, der eingewiesen werden will. Letzthin sagte ich zu einem Alkoholiker: 'Fertig, ich habe den Glauben an Sie verloren. Ich mache nichts mehr.' Seit diesem Moment hat er nicht mehr gesoffen, ist integriert und arbeitet wieder. Das gibts.» Was es auch gibt: dass Mader eine FFE verfügt, für die Person aber trotzdem eine ambulante Behandlung vorsieht. Der Normalfall freilich ist das nicht.
Die bernische FFE-Statistik
In Maders Büro steht ein dicker Bundesordner: sämtliche kantonalen Gesetze zur Umsetzung von Artikel 397 ZGB. «In jedem Kanton sind die Zuständigkeiten anders», sagt sie. Im Kanton Bern zum Beispiel ist es so: Es gibt ordentliche regierungsstatthalterliche FFE-Einweisungen, und es gibt vorsorgliche, die von ÄrztInnen in Akutsituationen ausgesprochen werden können. Die neuste FFE-Statistik - sie wird von der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) seit 1998 geführt - besagt für das Jahr 2001 Folgendes:
· Die Zahl der FFE-Einweisungen nimmt sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen - im Vergleich zur Gesamtzahl der jährlichen Klinikeinweisungen - zu: «Seit 1998 haben sich sowohl Verfahren als Eintritte praktisch verdoppelt.»
· 2001 meldeten die Kliniken insgesamt 1646 FFE-Zuweisungen, 620 von Regierungsstatthaltereien. Die restlichen, also die Mehrzahl, waren vorsorgliche Zuweisungen durch ÄrztInnen.
· Bei den Einweisungsgründen haben insbesondere «Geistesschwäche» und «schwere Verwahrlo- sung» überproportional zugenommen.
· Ein Drittel der Personen, gegen die ein FFE-Verfahren eingeleitet worden ist, gilt als «gefährlich», drei Prozent als «gemeingefährlich» (19 Männer und 6 Frauen).
Die sozialen Netze reissen
Über die Gründe, die zur Zunahme der FFE-Verfahren führen, können auch die Fachleute nur Vermutungen anstellen. Johann Binder, Leiter der Dienststelle Psychiatrie der GEF, beobachtet, dass nicht nur die FFE-Einweisungen, sondern auch die Klinikeintritte und die IV-Renten wegen psychischer Erkrankungen zunehmen: «Teilweise dürfte es sich um eine tatsächliche Zunahme handeln, teilweise aber auch um eine Tendenz, vermehrt schwierige soziale Situationen mit Hilfe der Psychiatrie zu lösen.»
Dass die Tragfähigkeit der sozialen Netze abnimmt, ist unbestritten. Jean-Daniel Sauvant, Präsident der Bernischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, vermutet, dass sich eine Schere öffne: Einerseits verfügen die sozialen Netze wegen des wirtschaftlichen Drucks über weniger Ressourcen, andrerseits werden auf dem Arbeitsmarkt die Nischen weggespart: «Hier trifft es die Schwächsten.» Mehr Fälle und weniger Ressourcen konstatiert auch Jean-Pierre Pauchard, der Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen: «Die Leute, die durch die Netze fallen, laufen Gefahr, in den Teufelskreis von Isolierung, Vereinsamung und Verwahrlosung zu geraten.» Und Regula Mader resümiert: «Irgendeinmal haben die Spar- massnahmen Auswirkungen. Seit Jahren baut man ab: im Bereich der sozialen Infrastrukturen, bei der Ausbildung des Personals und in den Kliniken.»
Die Klinik wirds schon richten
In den kantonalbernischen psychiatrischen Kliniken gilt eine Aufnahmepflicht. Sie sind überfüllt, die Arbeitsbedingungen sehr schwierig. «Wenn die psychischen und sozialen Konflikte einer Person eine Intensität erreichen, die die bisher betreuende Institution (etwa ein Heim oder eine Klinik) überfordern, so bleibt als letzter Ausweg zur Entlastung die Einweisung in eine psychiatrische Klinik», sagt Binder und fügt bei: «Hätten diese Institutionen eine grössere Tragfähigkeit, so müssten weniger Klinikeinweisungen stattfinden.»
Die Tragfähigkeit nehme aber auch bei den Verantwortlichen ab, sagt Pauchard, und zwar aus «Angst vor den möglichen Folgen»: «Heute ist bereits eine Drohung im Affekt ein Einweisungsgrund, auch wenn es dabei nicht um eine psychische Krankheit, sondern um ein soziales Problem geht.» Solche sozial Auffälligen hätten weder einen Leidensdruck noch ein Bedürfnis nach Behandlung. Sie machten in der Klinik disziplinarische Schwierigkeiten, und das Pflegepersonal reibe sich auf mit «Verhaltensgestörten», die sich häuslich einrichteten und sich «mit Drohungen und Erpressungen» durchzusetzen versuchten.
Obschon der frei praktizierende Psychiater Sauvant weiss, dass Pauchard damit ein existierendes Problem schildert, fragt er sich, ob die Personalknappheit in den Kliniken bei steigenden Zuweisungen nicht in anderen Fällen zu «verfrühten Entlassungen» führe. Auch Mader sieht das Problem, «dass die Leute zu schnell wieder herauskommen, bevor sie adäquat behandelt sind und der ambulante Rahmen stimmt».
Sie versucht deshalb, die FFE erst aufzuheben, «wenn die Arbeitssituation, die Wohnsituation und die gesundheitliche Situation» geklärt sind. Dieses Abwarten fördert einerseits die Nachhaltigkeit der Massnahme, führt aber auf der anderen Seite zu neuen Problemen. Pauchard sagt, es gebe in der Klinik nicht nur ein «Zuflussproblem» wegen der Aufnahmepflicht, sondern auch ein «Abflussproblem», wenn die Austritte aus nicht medizinischen Gründen verzögert würden: «Es ist nicht das medizinische System, das nicht funktioniert - bei der Reintegration in die Gesellschaft hapert es.»
Tendenz: Weiterhin steigend
Im Alltag verlieren derweil die mikrosozialen Netze in Familien und Nachbarschaften immer mehr an Tragfähigkeit. Mader erklärt es so: «Wenn der Druck im Job zunimmt und du einen Nachbarn hast, der jede zweite Nacht in der Wohnung herumschreit, dann hättest du früher vielleicht eher noch nach ihm geschaut; heute rufst du die Polizei oder telefonierst hierher und sagst: 'Der Nachbar stört, kommt.' Wenn ich dann frage: 'Habt ihr dieses oder jenes schon versucht?', sagen sie: 'Das ist nicht unsere Aufgabe. Dafür seid ihr da.'» Pauchard sagt: «Psychiatrische Kliniken können nicht gesellschaftliche Probleme lösen.» Überblickt man die Gründe für die Zunahme der Einweisungen, muss man davon ausgehen, dass diese Zahl noch weiter steigt. Auf diese Feststellung antwortet Regula Mader: «Davon bin ich überzeugt.»
Nationale FFE-Statistik: Kantonales Jekami
Jährlich werden in der Schweiz mehr als 10 000 Menschen per FFE versorgt. Oder sind es 20 000? So genau will man das lieber nicht wissen.
Welcher Mädchenvorname wurde in der Romandie im Jahr 2001 am häufigsten verwendet? Léa. Welcher am zweithäufigsten in der Svizra rumantscha? Larissa und Lena, ex aequo. Der vierthäufigste Bubenname in der Svizzera italiana? Luca. Der 28st-häufigste in der Deutschschweiz? Lars. Das Bundesamt für Statistik (BfS) weiss bis hinunter zum letzten Vornamen über alles Bescheid, was geht im Land.
Über fast alles. Zum Beispiel weiss es so wenig wie sonst jemand im Land, wie vielen Personen mittels FFE für Tage, Wochen oder gar Monate die persönliche Freiheit entzogen wird, um ihnen je nach Blickrichtung Hilfe zur Gesundung und zur Reintegration zukommen zu lassen oder aber sie zuzurichten für das Funktionieren in der herrschenden Normalität.
Über die Anzahl der FFE-Fälle pro Jahr gibt es nur Schätzungen. Zum Beispiel jene des Zentralsekretärs der Pro Mente Sana, Jürg Gassmann: «Aufgrund der zugänglichen Zahlen einzelner Versorgungsregionen kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl deutlich über 10 000 liegt» («PMS aktuell» Nr. 4/02). Oder jene des Journalisten Urs Zanoni: «50 000 bis 60 000 Menschen werden im Lauf eines Jahres stationär behandelt. Gut ein Drittel sind allerdings gegen ihren Willen dort» («Beobachter» Nr. 3/03).
Schätzen kann man zum Beispiel so: Im Jahr 2000 betrug die EinwohnerInnenzahl der Kantone Zürich und Bern zusammen 2,16 Millionen. Das waren rund 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung von 7,21 Millionen. Im gleichen Jahr betrugen die FFE-Einweisungen in den beiden gleichen Kantonen zusammen 4480. Angenommen, diese Zahl entspräche auch 30 Prozent der in der Schweiz verfügten FFE, dann ergäbe das für die gesamte Schweiz rund 14 930 Einweisungen.
Der Grund, dass es hier nur Schätzungen gibt, ist folgender: Zwar erhebt das BfS von den Kantonen im Rahmen der «Medizinischen Statistik» «Psychiatrische Zusatzdaten», verlangt sie aber nur fakultativ. Deshalb haben 1998 lediglich 13 Kantone die- se Zusatzdaten geliefert, 1999 deren 15 und 2000 deren 17 (die Zahlen für 2001 liegen noch nicht vor). Die ausgewiesenen FFE-Verfügungen stiegen in diesen drei Jahren von 3859 über 6315 auf 6834. Was diese Zahlen bedeuten, ist aus zwei Gründen offen:
· Unterschiedliche Praxis: Während im Kanton Tessin im Jahr 2000 gemessen an der Gesamtzahl der Einweisungen in stationäre Betriebe des Gesundheitswesens deren 2,4 Prozent per FFE erfolgten, waren es im Kanton Zürich 31,8 Prozent (in den psychiatrischen Kliniken Rheinau, Hard und Schlössli gar zwischen 40,4 und 47,2 Prozent).
· Verlässlichkeit der Zahlen: Die FFE-Gesamtzahl entwickelte sich im Kanton Luzern von 82 über 282 auf 64, der Kanton Genf meldete für alle drei Jahre keinen einzigen FFE.
Aber ist dieses Statistikrudiment des BfS überhaupt ein Unglück? Es wird schon alles seine Richtigkeit haben, immerhin ist FFE eine Art Ultima Ratio, die niemand leichtfertig verfügen wird. Sogar wenn das stimmte, liegt die FFE-Praxis in einer dreifachen Grauzone:
· Der Rechtsprofessor Marco Borghi hat 1991 in einer Studie nachgewiesen, dass 38 Prozent der formell «freiwillig» Hospitalisierten der Einweisung in eine Klinik nur unter Druck zustimmen oder gar nicht einschätzen können, was mit ihnen geschieht. Die Frage lautet: Wie stark dürfen solche «Pseudo-Freiwilligen» erpresst wer- den, bis man von FFE sprechen muss? Statt einheitlicher Standards gibt es hier bis heute in den Kantonen nur eine Grauzone.
· Der Psychiater Thomas Maier hat in einer Untersuchung zur «Praxis der Fürsorgerischen Freiheitsentziehung» festgestellt, dass nur gerade 21 Prozent der ausgewerteten ärztlichen Zeugnisse «alle formalen und inhaltlichen Anforderungen» erfüllen, wobei die PsychiaterInnen besser abschnitten als ÄrztInnen ohne psychiatrische Zu- satzausbildung («Praxis» 2001, 1575 ff). Das ist die Grauzone der ärztlichen Überforderung und Hilflosigkeit.
· Geht es um FFE, können ÄrztInnen, Vormundschaftsbehörden und RegierungsstatthalterInnen involviert sein. Der Dschungel von kantonal unterschiedlichen Verfahrensweisen und Kompetenzabgrenzungen schafft eine Grauzone für den Missbrauch der FFE als ordnungspolitischer Massnahme.
Jährlich werden vermutlich rund zwei Promille der Bevölkerung versorgt. Tendenz steigend. Gäbe es einen politischen Willen im Land, dann wüsste das Bundesamt für Statistik auch in diesem Bereich Bescheid bis zum letzten Vornamen.
Quelle: WOZ vom 20.03.2003
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